Die ungarische Außenpolitik und die europäische Integration. Zürich, 2012. September 3.

Verehrter Herr Professor Kellerhals,
Verehrte Universitätsprofessoren, Forscher und Studenten,
Meine Damen und Herren!

Es gereicht mir zur großen Freude - und ich bedanke mich für die Einladung -, dass ich im Europainstitut der namhaften Universität Zürich einen Vortrag über die ungarische Europa- und Außenpolitik halten darf. Über Europa zu reden: das hat eine Tradition an Ihrer Universität. Sir Winston Churchill hat hier am 19. September 1946 eine Rede gehalten und die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vorgeschlagen.

Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern werden durch historische Wurzeln genährt. Hier und jetzt verweise ich lediglich auf das letzte halbe Jahrhundert. Die Schweiz hat 1956 ihre Sympathie gegenüber Ungarn bezeugt: wir vergessen es nie, dass sie viele ungarische Flüchtlinge der Revolution aufgenommen hat, und ein großer Teil von ihnen hier das Universitätsdiplom erworben hat. Die Schweiz hat nach 1990 den demokratischen Wandel unterstützt. Ende 2006 ist die Solidarität des schweizerischen Volkes in der Bekräftigung des Erweiterungsbeitrages durch eine Volksabstimmung erneut zu Tage getreten.

In meinem Referat möchte ich als Außenminister eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union zu einigen einige Fragen der europäischen Agenda Stellung nehmen, die Eurokrise und die Zukunft der Union berühren. Als ungarischer Außenminister werde ich über die Nachbarschaftspolitik und kurz über die gegenwärtige dritte Priorität unserer Außenpolitik, die globale Öffnung sprechen.

Es freut mich, dass ich mich auf Wunsch der Organisatoren mit den Themen der Europäischen Union als Schwerpunkt meiner Ausführungen auseinandersetzen kann. Ich bin überzeugt, dass die europäische Integration in vieler Hinsicht an einen Wendepunkt gelangt ist.

Ich selbst hielt als Außenminister der ersten Regierung unter der Leitung von Viktor Orbán vor dreizehn Jahren einen Vortrag in Lausanne. Damals habe ich mich für die EU-Mitgliedschaft der Schweiz ausgesprochen. Ich gestehe es ein, dass sich die Welt seitdem sehr verändert hat. Die demographischen Tendenzen verstärken die Europäische Union nicht: Um 1900 war jeder fünfte Einwohner der Erde ein Europäer, jetzt ist nur jeder zwanzigste ein Afrikaner; 2050 wird dieses Verhältnis gerade umgekehrt sein. Die weltwirtschaftlichen und geopolitischen Kräfteverhältnisse gestalten sich dementsprechend. Es ist Gemeinplatz geworden zu behaupten, dass sich das Epizentrum, der tektonischen Bewegungen unserer Epoche nach Asien verschoben hat.

Die EU selbst hat sich seit 1999 verändert. Die damalige Zeit wurde durch Integrationslust gekennzeichnet. Die Geburt des Euro hat sich angebahnt. Die Erweiterung – die die Mitgliederzahl auf siebenundzwanzig, beziehungsweise mit dem bevorstehenden Beitritt Kroatiens auf achtrundzwanzig erhöht - war in vollem Gange. Das neue Jahrtausend hat mit dem Versuch begonnen, Europa eine gemeinsame Verfassung zu geben. Ich selbst war Mitglied des mit dieser Aufgabe betrauten, im Februar 2002 gegründeten Europäischen Konvents und hatte die Ehre, in der Eröffnungssitzung gleich nach dem Vorsitzenden Valéry Giscard d’Estaing das Wort zu haben.

In einer Studie, die ich ungefähr vor zehn Jahren geschrieben habe, habe ich vier Möglichkeiten für die Zukunft der europäischen Integration geprüft. Die erste war der damals als unvorstellbar gesehene Zerfall der Union; die zweite der allmähliche Abbau und die Zersetzung, die dritte ein gewisser qualitativer Sprung nach vorn, und die vierte eine langsame, aber organische Entwicklung. Die zwei extremen Szenarien, also den Zerfall und den qualitativen Sprung habe ich damals praktisch ausgeschlossen. Die zweite und vierte Möglichkeit – progressiver Aufbau oder Abbau - habe ich realistisch genannt.

Heute muss man aber mit allen vier Möglichkeiten rechnen.

Dabei würde ein Zerfall tragische Folgen haben. Viele haben darüber vieles gesagt. Alles in allem könnte das die Rückkehr zum Europa der Zwischenkriegszeit bedeuten: eine düstere Aussicht, die in niemandes Interesse steht und die wir daher um jeden Preis vermeiden müssen. Die Gefahr ist noch nicht unmittelbar und könnte höchstens im Falle der Auflösung der Eurozone Realität werden. Und was sollen wir von einer Flucht nach vorne halten? Wollen wir die Integration trotz alledem ankurbeln? Vieles spricht dafür. Gemeinsam sind wir stärker und könnten deshalb die Relevanz Europas in der Welt besser aufhalten. Sind die Voraussetzungen dafür gegeben?

Meine Damen und Herren!

Bezüglich der Dynamik der Integration verwendet man gern die Fahrradmetapher: man muss es ständig nach vorne treten, sonst fällt das Fahrrad um. Ich bin mit diesem Gleichnis eigentlich nicht einverstanden. In der gegenwärtigen Lage wäre es vielmehr notwendig, unsere Füße vom Pedal auf die Erde zu stellen, damit wir den Boden fühlen, uns ein wenig erholen und uns umschauen, in welche Richtung wir weitergehen sollen. Doch umkehren sollten wir nicht.

Ich gehe also weiterhin davon aus, dass zwar extreme Entwicklungen nicht mehr auszuschließen sind, am wahrscheinlichsten kann man jedoch mit den zwei weniger radikalen Optionen, oder deren Kombination rechnen: entweder ein inkrementeller, bedachter Weiterbau oder Erosion und Fragmentierung. Beide rivalisierende Antriebe sind anwesend und können auch vorübergehend auch zusammenleben, sowie unseren Diskussionen über Europa einen Rahmen geben.

Gegenwärtig herrschen Krise, Spannungen sowie eine gewisse Ratlosigkeit in Europa. Diesmal müssen wir mit einer mehrschichtigen, komplexen Krise – die weit über die Zustände der Wirtschaft und der Finanzen hinausgeht - fertig werden. Es gibt zum einen die finanzielle und wirtschaftliche Krise, die in erster Linie die Krise der Eurozone ist. Zum anderen gibt es die Legitimations-, die gesellschaftliche und die Vertrauenskrise der Union, die das einheitliche Vorgehen der Mitgliedsländer notwendig macht.

Die demographische Lage habe ich bereits erwähnt. Die Öffentlichkeit widmet ihr noch immer relativ wenig Aufmerksamkeit. Vielleicht deshalb, weil sie das Überdenken einiger Grundfragen über das menschliche Dasein und die Moral erfordern würde. Es ist jedoch eine statistische Tatsache, dass sich die ureigene Bevölkerung Europas verringert. Dies betrifft jeden Mitgliedsstaat der EU, mit Ausnahme Frankreichs. Und es betrifft – soweit ich weiß - auch die Schweiz, deren jeder vierte Einwohner im Ausland geboren ist. In der Migration liegt nicht nur eine gesellschaftliche Herausforderung, sondern auch eine gewaltige Möglichkeit Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. Jedoch müssen wir auch die inneren Reserven der europäischen Gesellschaften suchen. Deshalb unterstützen wir den Prozess der Erweiterung. Deshalb stehen im Mittelpunkt der Politik der ungarischen Regierung die Familie und deren Stärkung mit allen möglichen Mitteln. (Die Familie wurde bis vor kurzem oft als ein altmodisches oder urkonservatives Konzept abgetan. In der Tat ist sie die zukunftsorientierteste menschliche Gemeinschaft.)

Aber zurück zur Europapolitik.

Es gibt zahlreiche, teilweise kühne Ideen über die Zukunft Europas, wie z. B. in der Zukunftsgruppe des deutschen Außenministers Westerwelle. Doch in concreto, womit wir uns auseinandersetzen müssen, ist der Bericht des Präsidenten des Europäischen Rates unter dem Titel "Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)", ein Dokument das Herman Van Rompuy den Staats- und Regierungschefs eben im Juni vorgestellt hat. Der Europäische Rat hat den Präsidenten des Europäischen Rates beauftragt, in enger Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission, dem Präsidenten der Euro-Gruppe und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank einen spezifischen Fahrplan für die Verwirklichung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion auszuarbeiten. Sie werden prüfen, was im Rahmen der geltenden Verträge unternommen werden kann und welche Maßnahmen Vertragsänderungen erfordern würden. Ein Zwischenbericht wird im Oktober 2012 und der Schlussbericht vor Jahresende vorgelegt werden.

(Einige Angaben über die V4: der Gesamtexport der V4=8% der EU, wobei ist dieser Anteil ein Prozentpunkt höher als vor der Krise! Exportmärkte für Ungarn: Deutschland, Rumänien, Slowakei, Österreich; 2011 die durchschnittliche Wachstumsrate der EU10 3,4% vs. 1,5 der EU27; Staatsschulden der EU10:  40,6% vs. 87,2% der EU27.)

Der Van Rompuy Bericht beschreibt "vier wesentliche Bausteine" der künftigen WWU.

Baustein I. wäre ein integrierter Finanzrahmen. Ziel ist, um die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten und die von den europäischen Bürgern zu tragenden Kosten für Bankeninsolvenzen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Verantwortung für die Aufsicht der Banken würde auf die europäische Ebene übergehen. Gemeinsame Mechanismen für die Bankenrestrukturierung und die Absicherung von Kundeneinlagen sind auch vorgesehen. Zu viel öffentliches Geld hat man schon für private Bankpleiten ausgeben müssen. Es ist Zeit, mit dieser Praxis Schluss zu machen.

Der zweite Baustein wäre ein integrierter Haushaltsrahmen, um auf nationaler und europäischer Ebene für eine solide Haushaltspolitik zu sorgen, auch im Hinblick auf die künftige Emission gemeinsamer Schuldtitel. Diese letzte ist eine umstrittene Idee. Meiner persönlichen Meinung nach wäre eine Vergemeischaftlichung der Schulden nötig: eine plötzlich angewachsene Likvidität könnte der steigenden Volatilität Einhalt gebieten. Verraten Sie mich Frau Merkel nicht (geschweige denn Herrn Schäuble). (Ein Beamter der Europäischen Zentralbank hat gesagt: Wenn die Märkte 2010 gewusst hätten, dass 2012 die EZB Kreditgeld in der Höhe von 700 Milliarden Euro bereitstellen würde, dann hätte sich die Krise viel weniger vertieft.)

Der dritte Baustein heißt integrierter wirtschaftspolitische Rahmen. Ohne das auszusprechen, Van Rompuy berührt damit den Kern des Problems. Es sind wohl die Wettbewerbsfähigkeitsdiskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten, die die wahre Ursache der Eurozonenkrise darstellen. Ein wirtschaftspolitischer Rahmen könnte Maßnahmen fördern, die Nationalwirtschaften in die gleiche, abgestimmte Richtung ziehen und dadurch zu der Wettbewerbsfähigkeit der Zone beitragen. Ein wahrlich ambitiöses Ziel, das Politikbereiche betreffen würde, die bis vor kurzem in unberührbare nationale Kompetenz gehört haben: Steuerpolitik, Arbeitsmarktregelung, usw.

Das vierte Element, nämlich der Anspruch auf stärkere demokratische Legitimität und Rechenschaftspflicht, ist eigentlich kein Baustein, sondern das Zement im Gebäude. Eine logische Erwartung: je mehr Zuständigkeiten wir übertragen, desto mehr Kontrolle wir diejenigen unterwerfen wollen, die mit unserer Vollmacht handeln und für die wir unseren Wählern gegenüber Rechenschaft tragen.

Jetzt bin ich an den Punkt gelangt. Wie steht Ungarn zu den Ideen, die im Van Rompuy Bericht oder anderswo erschienen sind? Die Wochenschrift Der SPIEGEL stellt regelrecht einen neuen Vertrag in Aussicht.

Die Rettung der Eurozone steht in unserem gemeinsamen Interesse. Wo der Titanic sinkt, dort können die Wirbel auch die Fischerboote mit hinunterreißen (na ja, die Schweiz gilt eher als ein Yacht.) Niemand zweifelt inmitten daran, dass die Verstärkung der Eurozone eine Vertiefung der Integration benötigt.

Unser Verhältnis zu der Reform der Eurozone ist durch zwei Erfordernisse bestimmt. Eins: Den Teilnehmern der Währungsunion soll freie Hand gegeben werden, damit sie die Krise bald und erfolgreich überwinden können. Ungarn wird sie daran keineswegs hindern. Die zweite Anforderung ist, dass die neue Konstruktion für alle EU Mitgliedstaaten, die anschließungswillig und fähig sind, offen bleiben muss. Sollten diese zwei Bedingungen nicht erfüllt werden, dann müssten wir mit der Fragmentierung, oder Institutionalisierung konzentrischer Kreise in der EU rechnen, was die Legitimations- und Vertrauenskrise weiter verschärfen würde. Ungarn wird sein Ziel, ins Zentrum zu gehören, jedenfalls nicht aufgeben – selbst wenn das nur mittel- oder langfristig realistisch wäre.

Was weitere Kompetenzübertragungen auf Unionsebene angeht, wir sind nicht die einzigen, die so etwas unter den jetzigen Umständen nicht erflehen. Wenn es doch dazu käme, selbst dann halte ich es eher langfristig, wie etwa in zehn Jahren vorstellbar. Überraschungen sind aber nie auszuschließen. Also möchte ich gleich klarstellen, welche vier Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit wir darüber reden können.

Eins: Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union muss der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor gelten. Das heißt, die EU soll ihre Kompetenzen durch Übertragung seitens der Mitgliedstaaten erhalten. (Art. 5, Vertrag über die Europäische Union)

Zwei: Die Gleichheit der Mitgliedstaaten und ihre jeweilige nationale Identität muss weiter bewahrt werden. (Art. 4 (2)) (Pro domo: Ha Miniszter úr idézni akarja a szerződéshelyet, akkor németül kimondva: Artikel vier, Absatz zwei.) Das ist auch eine Garantie dagegen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

Drei: Die nationale Identität der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer konstitutionellen Identität muss weiter geachtet werden. (Ibid.) Die EU oder die Mitgliedstaaten dürfen einander keine ideale oder abstrakte Modelle der staatlichen Strukturen und der Rechtsordnung aufdrängen. Sollte dieses Prinzip wegfallen, dann könnte man eines Morgens aufwachen und sagen: es ist inakzeptabel, dass der britische Monarch Anglikaner, der schwedische Lutheraner, oder der Papst Katholik sein muss. Das alles heißt natürlich nicht, dass die Rechtsordnung eines Mitgliedstaates mit den Grundwerten der EU nicht im Einklang stehen muss.

Vier: Das Subsidiaritätsprinzip darf ihre Gültigkeit nicht verlieren.

Neben diesen Grundprinzipien haben wir andere, nicht weniger wichtige Erwartungen. Die Gemeinschaftsmethode, als Gewähr gegen die Übermacht größerer Mitgliedstaaten, muss bewahrt werden. Die grundlegenden Errungenschaften der EU, wie etwa der Binnenmarkt oder die vier Freiheiten müssen vor protektionistischen und populistischen Impulsen geschützt werden. Die Aufrechterhaltung der Einheit der aktuellen Mitgliedschaft der EU soll sine qua non jeglicher Umgestaltung sein: kein Lamm, besonders nicht ein schwächeres darf aus der Herde gejagt werden. (Dem stärkeren darf man ebenso wenig das Leben derart schwer machen, dass es sich dann eine andere Weide sucht.) Innerliche Bruchlinien, die sich institutionalisieren, können nur Spaltungen und damit die Stärkung des zweierlei Maßes zu Folge haben.

Eine Fußnote sei mir gestattet. Man braucht vor komplexe, mehrschichtige Beschlussfassung keine Angst zu haben. In der Welt gibt es zahlreiche erfolgreiche Beispiele dafür – man denke an die Schweiz.

Ein Wort über die gegenseitige Solidarität der Mitgliedstaaten, die die Krise schwer erprobt. Die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU laufen bald im höchsten Gang. Sind die Mitgliedstaaten bereit, die gemeinsamen Ziele weiter adäquat zu finanzieren? Für Ungarn sind Kohäsionspolitik und gemeinsame Agrarpolitik, diese zwei par excellence Gemeinschaftspolitiken, von ausragender Bedeutung. (Pro domo: Miniszter úr a beszédet előkészítő értekezleten nem említette az MFF-et, de ennyit esetleg el lehet mondani róla. Magyarország esetleges százalékos veszteségei ennek a hallgatóságnak nem sokat mondanak.) Die Kohäsionspolitik ist außerdem eines der raren Mittel, mit dem heute man Investitionen und dadurch Wachstum ohne weitere Verschuldungen fördern kann.

Ich möchte kurz noch eine Frage berühren, die zum Themenkreis EU gehört, aber aus bilateraler Sicht unumgänglich ist. Die Schweiz hat am 1. Mai 2011 – nach Ablauf einer Übergangsperiode – ihren Arbeitsmarkt vor den ungarischen Arbeitnehmern geöffnet. Der Schritt hat offenbar zu keinen nennenswerten Störungen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt geführt. Deshalb waren wir überrascht, dass die Schweiz – unter streitbare Berufung auf die Ventilklausel und vielleicht einem innenpolitischen Impuls entgegenkommend – seit dem 1. Mai diesen Jahres erneut Quotenregelung für die Arbeitnehmer der acht ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten eingeführt hat, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Uns berührt solch ein diskriminativer Schritt besonders empfindlich gerade dann, wenn er fast zur gleichen Zeit mit der niederländischen „Beschwerde-Hotline“ gegen die Arbeitnehmer aus unserer Region, aufgestellt wird. Ich bin zuversichtlich, dass für diesen Rechtstreit, der zwischen der Schweiz und der EU entstanden ist, bald eine gerechte Lösung gefunden wird.

Mein letzter Punkt über die EU überleitet mich zum Thema Außenpolitik. (Einst die Hauptbeschäftigung eines Außenministers.)

Die EU muss sich in der Welt besser behaupten. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (CFSP) trug noch Kinderschuhe, als die Krise ausgebrochen ist. Das hat nicht geholfen. Aber wir können nicht warten, bis alles in unserem Haus wieder in perfekter Ordnung ist. Die EU hat eine Mission in der Welt, in dem sie viele Formen regionaler Zusammenarbeit oder Integrationsversuche inspiriert hat. (Der Generalsekretär der ASEAN hat darüber als Gastredner der jährlichen Konferenz ungarischer Missionsleiter gesprochen.) Dieses Bewusstsein könnte auch der Lösung unserer inneren Probleme einen Schwung geben. Die CFSP darf man schon in ihrem jetzigen Zustand nicht unterschätzen. Klar: in den größten Schicksalsfragen, wie z. B. der Nahostkonflikt können wir noch nicht gemeinsam handeln. Aber in anderen Kontexten, wie Afrika oder gewisse Momente des arabischen Frühlings hat die EU überraschenden Gleichklang aufzeigen können. Die weitere Entwicklung der CFSP wird meiner Überzeugung nach langfristig allerdings nur mit der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungskraft möglich sein.

Eine erfolgreiche Nachbarschaftspolitik ist ein vitales Interesse unseres Landes. Sie ist eine unserer Prioritäten seit der Wende vor mehr als zwei Jahrzehnten. Die letzten zwei Jahre nach dem Regierungsantritt Viktor Orbán’s haben auch bewiesen, dass unsere gemeinsamen Interessen alle Meinungsunterschiede ausgleichen oder gar überwinden können. Vor unserem Beitritt hatten viele vorhergesagt, dass Mitteleuropa in der EU sich auflösen würde. Das Gegenteil ist passiert. Gerade die Mitgliedschaft in der EU hat uns, besonders den Visegrad 4 dabei geholfen, unsere spezifischen gemeinsamen Interessen zu erkennen. Doch diese mitteleuropäische Solidarität zeichnet sich nicht gegen, sondern innerhalb der Union ab. Mitteleuropa ist ein kulturell-geschichtlicher Begriff, wohin sogar die Schweiz gehören kann. (Die Schweiz ist ja das „Homeland“ der Habsburger.) Der erste ungarische EU-Ratsvorsitz hat die Europäische Donaustrategie ins Leben gerufen. Die EU braucht eine danubische Dimension, neben der nördlichen, atlantischen und mediterranen. Am 1. Juli 2013 wird Ungarn den Vorsitz der Visegrad 4, den 1. Januar 2013 den der Zentraleuropäischen Initiative übernehmen. Wir erklärten diese kommende Periode zum Jahr der Zentraleuropäischen Zusammenarbeit. Wir streben die bestmöglichen Beziehungen auch mit der Slowakei und Rumänien an. Unsere Beziehungen mit Bukarest haben in den letzten zwei Jahren einen historischen Höhepunkt erreicht. Es wird nicht an uns liegen, ob dies während der neuen rumänischen Regierung fortgesetzt werden kann. Wir sind voller Erwartungen bezüglich der rumänischen Absichten.

Mein letztes Thema ist die globale Öffnung unserer Außenpolitik. In den letzten 20-22 Jahren war die Integration in die EU und in die NATO unser Hauptziel. Weniger Achtung haben wir der weiteren Welt über den euroatlantischen Raum hinaus widmen können. Aber der Aufstieg – heute Asiens, morgen Afrikas - zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Dabei handelt es sich nur um China und Indien. Es gibt Dutzende von Ländern die sich heutzutage äußerst erfolgreich erweisen. Kurz und gut, man muss einen globalen Blick haben.

Gesundes Trinkwasser wird bestimmt als ein wertvolles Kapital in den nächsten Jahrzenten gelten. Ungarn ist nun eine Großmacht wenn es um Süßwasserreserven geht. Wir haben das Thema Wasserstrategie in den Mittelpunkt unserer EU- und Außenpolitik gestellt. Nächstes Jahr wird Budapest Gastgeber einer UNO-Gipfelkonferenz über das Wasser sein. Aber eine ähnliche Bedeutung schreiben wir den Fragen der Lebensmittelversorgung, der Energiepolitik und der internationalen Entwicklungspolitik zu, wo wir ebenso mit neuen Ideen auftreten möchten.

Als Teil der globalen Öffnung haben wir auch nach Osten geöffnet: die so nötige Wachstumsimpulse können heute meist aus Asien kommen. Wir tun nichts anderes, als in den Fußstapfen unserer europäischen Partner zu treten. Wir klettern auf einen Zug, der schon fast davongesaust ist.

Unsere globale oder östliche Öffnung widerspricht unseren europäischem Verpflichtungen nicht, sondern ergänzt sie nur. Ebenso wie unsere europäische und nationale Identitäten sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern voraussetzen. Kein Mensch, keine Nation ist eindimensional – das brauche ich Ihnen in der Schweiz nicht weiter zu erläutern.

Meine Damen und Herren!

Churchill hat in dieser noblen Lehranstalt eloquent für die Schaffung der Europäischen Vereinigten Staaten plädiert. Er hat sich aber in derselben Rede von seinem eigenen Traum gleich distanziert: „We are with you, but not of you“. Wird dieses britische Paradigma ewig auch für die Schweiz gelten? Würde ich heute noch, wie vor 13 Jahren, der Schweiz raten, der EU beizutreten? Eines weiß ich sicher: Ihr Land würde die Europäische Union bereichern, und nicht nur rein wirtschaftlich gesehen. Ich wünsche mir jedenfalls eine Europäische Union, mit einem Ungarn drin, der sich eines Tages auch die Eidgenossen gern anschließen würden. Wir arbeiten dafür.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Ministry of Foreign Affairs)